Intern
Institut für Geschichte

Kaiserrecht in Genderperspektive

Kaiser Justinian (527–565) ist eine zentrale Figur für die althistorische und rechtshistorische Forschung. Mit seinem Namen ist vor allem die große Kompilation des römischen Rechts verbunden, das Corpus Iuris Civilis. Doch auch als Gesetzgeber war er überaus aktiv. Dabei hat er den Belangen der Frauen sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet, so dass sich die Frage nach den Gründen und Konsequenzen dieses Interesses stellt. Das Projekt verbindet die sozial- und rechtshistorische Perspektive mit der Genderperspektive und erforscht die Ideen von ‚Weiblichkeit‘ im Spiegel des Kaiserrechts im 6. Jahrhundert. Grundsätzliche Leitfragen des Projekts sind: Warum und in welchen Zusammenhängen werden Frauen qua Geschlecht in der Rechtsetzung sichtbar? Welche Motive waren für Justinian jeweils handlungsleitend? Welche Rolle spielt das Geschlecht für die Normierung der Identität neben weiteren Faktoren wie Bekenntnis, Status (frei – unfrei), sozialem Rang, finanzieller Situation, Wohnort etc. und wie beeinflussen sich solche Aspekte gegenseitig? Um diese Fragen zu beantworten, werden ca. 200 Bestimmungen aus dem Codex Iustinianus und den Novellae ausgewertet. Berücksichtigt werden Gesetze, die Frauen in weltlichen Kontexten (z.B. als Ehefrau, Mutter, Erbin, Witwe, Patronin, Schauspielerin) zeigen. Sie formulieren teils idealtypische, teils variierende und teils widersprüchliche Erwartungen an Frauen und vermitteln auf diese Weise einen Eindruck von komplexen Geschlechterrollen sowie Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die nicht selbsterklärend sind, sondern einer eingehenden Untersuchung und Interpretation bedürfen. Denn hier wird ein Spannungsverhältnis zwischen Antworten auf reale, sehr individuelle Frauenprobleme und der rhetorischen Selbstdarstellung des Kaisers deutlich. In einer Zusammenschau mit epigraphischen, hagiographischen, historiographischen und papyrologischen Texten müssen die Gesetze deshalb auf ihren Sitz im Leben hin überprüft, Kontinuitäten und Brüche in der Rechtsentwicklung selbst müssen nachvollzogen und hinterfragt werden. Auf diese Weise können nicht nur spezifische Frauenwelten, sondern auch die römisch-byzantinische Gesellschaftsordnung des 6. Jahrhunderts und die Sicht auf Frauen innerhalb dieser Ordnung erschlossen werden.

In den einzelnen Schwerpunkten des Projekts soll untersucht werden,

(1) welchen Einfluss christliche Ideen auf die ‚Frauengesetzgebung‘ Justinians und die dort vermittelten Geschlechterrollen hatten;

(2) wie sich die Stärkung der finanziellen Situation der Frauen auf das Familienleben und die Handlungsfreiheit der Frauen auswirkte und welche Motive ihr zugrunde lagen;

(3) wie die Gesetzgebung das Leben der Frauen jenseits der Eliten (Prostituierte, Schauspielerinnen, sogenannte ‚Häretikerinnen‘) beeinflusste und wie sich deren soziale Stellung auf die Geschlechtswahrnehmung auswirkte;

(4) wie Frauen selbst über Eigeninitiative zur Entwicklung des Rechts beitrugen, wichtige Veränderungen mit anregten und die Wahrnehmung von Frauen mitprägten;

(5) wie Geschlechterrollen zwischen sozialen Gewohnheiten, individuellen Zwängen sowie Vorstellungen des Kaisers ausgehandelt wurden und welchen Formen von Kritik und Widerstand die Rechtssetzung ausgesetzt war;

(6) wie regionale Traditionen das Frauenbild und die ‚Frauengesetze‘ mitbestimmten.